Der Schachecke im Aachener Anzeiger 1912-1914

Im Aachener Anzeiger gab es vom Sommer 1912 bis zum Kriegsbeginn 1914 jeden Sonntag eine Schachspalte im Aachener Anzeiger/Politisches Tageblatt. Sie wirft Licht auf eine Zeit, über die die Vereinschronik sonst nichts zu berichten weiß. Insbesondere erfahren wir hier von zwei Simultanveranstaltungen, die Boris Kostic im Dezember 1912 und Weltmeister Emanuel Lasker im November 1913 in Aachen gegeben haben. Philipp Lamby, 30.12.2020

1 Die Schachspalte im Aachener Anzeiger

Über die letzten Jahre vor dem 1. Weltkrieg weiß unsere Vereinschronik nur wenig zu berichten. Wir erfahren lediglich von zwei Simultanvorstellungen, die Jacques Mieses am 18.10.1909 und Frank Marshall am 27.5.1911 in Aachen gegeben haben. Trotz dieser Veranstaltungen, die dazu dienen sollten, das Interesse weiterer Bevölkerungskreise auf das königliche Spiel zu lenken, habe 1912 an den Vereinsabenden so wenig Spielbetrieb geherrscht, dass sogar erwogen worden sei, den Verein aufzulösen. Daraufhin habe sich der ASV mit dem neu gegründeten Verein Turm Aachen, von dem wir sonst allerdings keine Spuren finden konnten, verbunden.1 Ungefähr in diesem Zeitraum gab es auch einen einen Wechsel des Vorstandes: der langjährige Vorsitzende Bodo von Fischersz übergab die Amtsgeschäfte an den Rechtsanwalt Franz Nütten.2

Allem Anschein nach hat der neue Vorstand dann ernsthafte Anstrengungen unternommen, der Mitgliederkrise entgegenzuwirken und den Verein auffälliger in der Öffentlichkeit zu präsentieren.3 Jedenfalls fand sich im Aachener Anzeiger / Politisches Tageblatt am 28. Juli 1912 auf der Seite „Zur Unterhaltung und Belehrung“ erstmals eine vom Aachener Schachverein gestaltete Schachspalte. Diese erschien von nun an zwei Jahre bis zum 26. Juli 1914 ununterbrochen jeden Sonntag. In der Regel enthielt die Schachspalte ein Schachproblem und eine Partie bekannter Meister mit kurzen Kommentaren. Hin und wieder kann man dort auch eine Notiz über das Vereinsleben finden. Am 1. August 1914 fiel die Schachspalte den amtlichen Bekanntmachungen zur Mobilmachung zum Opfer – der 1. Weltkrieg war ausgebrochen. Die für eine Vereinschronik interessanten Erkenntnisse aus dieser Quelle wollen wir hier präsentieren.

2 Die Aachener Problemfreunde

Ein augenfälliger Unterschied von damals zu heute ist der Stellenwert, den das Problemschach früher genoss. Fast jede Schachspalte oder Schachzeitung jener Zeit pflegte auch einen Problemteil und große Schachveranstaltungen waren oft mit einem Problemturnier verbunden. Auch im Aachener Schachverein versuchten sich mehrere Mitglieder an der Kunst, selber Probleme zu komponieren. Einige ihrer Produkte erschienen neben den Problemen bekannter Komponisten in der Schachspalte. In der Regel handelte es sich dabei um nicht sehr schwere Bearbeitungen bekannter Problemthemen, die nicht unbedingt Anspruch auf Originalität erheben können, aber sich für Löser, die keine Problemschachvorkenntnisse haben, als durchaus knifflig erweisen könnten.

Mit der Veröffentlichung der Probleme ging auch ein Lösungsturnier einher, an dem sich Nicht-Vereinsmitglieder beteiligen konnten. Die Namen der erfolgreichen Löser wurden veröffentlicht. Zu ihnen gehörte auch ein „Fräulein“ Maria Baerens, eine Lehrerin, die damit als die erste uns namentliche bekannte Aachener Schachspielerin in die Chronik eingeht.

Im weitesten Sinne gehört auch das folgende Bauernendspiel in diesen Abschnitt. Angeblich handelt es sich dabei um ein Fragment aus einer tatsächlich im Aachener Schachverein gespielten Partie, aber die merkwürdige Bauernstruktur des Schwarzen am Königsflügel läßt es eher wie eine kleine Studie aussehen. Der Ingenieur Happich ist recht häufig mit Partien und Endspielen in der Schachspalte vertreten. Er war offensichtlich eines der aktivsten Mitglieder im Aachener Schachverein und wir vermuten, dass er auch an der Redaktion der Schachspalte beteiligt war.

3 Der Besuch von Boris Kostic

Auch die Serie von Simultanveranstaltungen, die man 1909 aufgenommen hatte, wurde fortgeführt. So hatte man im Dezember 1912 den jungen Meister Boris Kostic zu Gast. Geboren am 1887 in Vrsac, damals Österreich-Ungarn, heute Serbien, hatte dieser während eines Handelsstudiums in Wien und Budapest sich auch als Schachspieler einen Namen gemacht und 1909 in Budapest den Meistertitel errungen. Danach ging er nach Köln, wo er u.a. Marshall und Leonhardt in kleinen Matches besiegte. Bei den großen, internationalen Turnieren in San Remo und Karlsbad 1911 erreichte er gute Ergebnisse. Laut historischen Elo-Berechnungen erreichte er in den Jahren 1918/1919 seinen Zenit und belegte Platz fünf der Weltrangliste, 4 bevor eine deftige 5-0 Niederlage in einem Match gegen Capablanca für einen gewissen Karriereknick sorgte. Jedenfalls hatten sich die Aachener mit Kostic ein vielversprechendes, aufstrebendes Talent zum Gegner gesucht.

Per Zeitungsannonce im Aachener Anzeiger am 14.12. wurde die Simultanveranstaltung beworben und am 21.12.1912 gab es eine Kurzmeldung zum Verlauf der Veranstaltung: „Die Simultanveranstaltung des Schachmeisters Kostic war ausgezeichnet besucht. Kostic spielte 16 Partien simultan; er gewann davon 13, verlor 1 (gegen Herrn Sieper) und machte 2 remis (gegen die Herren Holländer und Jung).“ Kostic blieb wohl noch ein etwas länger in Aachen und gab am 29.12. noch eine Blindvorstellung.

Die Partien gegen Jung und Sieper erschienen im Aachener Anzeiger am 29.12. und 12.1. Eine Blindpartie gegen Beratende findet man in der Schachspalte vom 5.1. und eine weitere gegen Lauterjung am 19.1. Wir bringen sie hier mit den Originalkommentaren. Für die Veröffentlichung hatten sich die Aachener damit vier Partien ausgesucht, in denen sie gegen den Meister punkten konnten. Schachlich sind sie nicht so interessant und fallen in die Rubrik „Unfälle die dem Simultanspieler halt schon mal passieren“.

4 Der Besuch von Emanuel Lasker

Am 10.11.1913 trat niemand geringerer als der damals amtierende Weltmeister Emanuel Lasker in Aachen auf. Die Veranstaltung wurde am 9.11.1913 durch nachstehende Annonce im Aachener Anzeiger beworben. Ein interessantes kleines Detail ist, dass Lasker seinen Besuch in Aachen auch dazu nutzte, für das Spiel „Laska“, das er selbst erfunden hatte und seit 1911 zu vermarkten versuchte, zu werben.5

Ankündigung von Laskers Simultanvorstellung aus dem Aachener Anzeiger, 9.11.1913

Am 16.11.1913 erschien dann der folgende kurze Bericht:

„Das Gastspiel des Weltmeister Dr. Em. Lasker (Berlin) hatte am Montag außer den Mitgliedern des Aachener Schachvereins zahlreiche Freunde des schönen Spiels aus Aachen und Umgebung angelockt; sogar aus Maastricht waren Gäste erschienen. Für den einleitend gehaltenen Vortrag über die Spielweise der großen Meister erntete Herr Lasker den lebhaften Dank der Anwesenden. Bei der dann folgenden Simultanvorstellung zeigte der Weltmeister so recht, über welch gewaltige Spielstärke er verfügt. Lasker spielte 25 Partien gegen Mitglieder des Aachener Schachvereins und andere Anwesende gleichzeitig und gewann in ungefähr 3 1/2 Stunden 23! Nur zwei Mitglieder des Aachener Schachvereins hatten einen Erfolg zu verzeichnen. Baumeister Riese gewann seine Partie und Postsekretär Jung erzielte remis.“

Mit Lasker verfuhr man etwas respektvoller als mit Kostic und am 30.11. und 7.1. wurden in der Schachspalte nicht die zwei Punktgewinne der Aachener Spieler sondern zwei Gewinnpartien des Weltmeisters abgedruckt.

Schachspalte im Aachener Anzeiger vom 30.11.1913 mit der Partie Happich - Lasker.
Schachspalte des Aachener Anzeigers vom 7.1.1914 mit der Partie Lasker-Lauterjung.

Wir bringen diese Partien mit den Originalkommentaren der Schachspalte. Man kann jedenfalls festhalten, dass der Weltmeister in beiden Partien nicht gut aus der Eröffnung herauskam und hart für seine Punkte arbeiten mußte.

5 Winterturnier und Wettkampf RWSV - NSB

Desweiteren erfahren wir auch wenig über den normalen Spielbetrieb im Verein. So wurde ungefähr von November 1913 bis Juli 1914 ein sogenanntes „Winterturnier“ ausgespielt. Solche Turniere wurden damals in den meisten Vereinen ausgetragen und hatten in der Regel den Status einer Vereinsmeisterschaft. In Aachen nahmen 13 Teilnehmer an dem Turnier teil und spielten in zwei Gruppen. Das Hauptturnier gewann Sieper vor Jung und einem Herrn Robert aus Monschau. Die folgende Partie des Turniersiegers stammt also aus der ersten ASV-Vereinsmeisterschaft, von der uns ein Bericht vorliegt.

Der Aachener SV war auch Mitglied im „Rheinisch-Westfälischen Schachverband“, der 1901 als „Niederrheinischer Schachverband“ gegründet worden war. Eine sehr schöne Tradition, die dieser Verband in unregelmäßigen Abständen organisierte, waren die Massenvergleichskämpfe mit dem Niederländischen Schachbund. Einer davon fand in unserem Berichtszeitraum statt. Der Aachener Anzeiger berichtete am 21.Juni 1914:

„Am 6. und 7.Juni fand in Nymwegen der 4. Wettkampf zwischen dem Rheinisch-Westfälischen Schachverband und dem Niederländischen Schachbund statt. Es fanden sich je 77 Teilnehmer, darunter auch 6 Mitglieder des Aachener Schachvereins ein. Niederland siegte mit 87:67. Die Mitglieder des Aachener Schachvereins erzielten bei 12 Partien 8 Punkte. Rechtsanwalt Nütten gewann beide Partien.“

Die beiden Gewinnpartien des Vereinsvorsitzenden wurden in der Ausgabe vom 28.Juni 1914 kommentarlos abgedruckt.

6 Biografisches

Im Laufe der beiden Jahre, in denen die Schachspalte existierte, wurden insgesamt 14 Mitglieder namentlich erwähnt. Ein Blick in die Aachener Adressbücher und Genealogie-Seiten gibt uns ein wenig Auskunft über diese Personen.

Die Gruppe von Problemfreunden innerhalb des ASV bestand aus Dr. Georg Meyer, einem vereidigten Handelschemiker, Wilhelm Jung, einem Postsekretär und Fritz Janke, einem Oberpostassistenten. Über den Ingenieur Happich war sonst nichts zu erfahren, obwohl er anscheinend eines der aktivsten Mitglieder im Verein war. Bei unserem Vereinsmeister Sieper handelt es sich wahrscheinlich um Fritz Sieper, Kaufmann und Geschäftsführer der Firma Brause & Co, G.m.b.H.. Der Name Riese kommt in den Adressbüchern nur zweimal vor, die Bezeichnung als Baumeister passt am ehesten zum Architekten Fritz Riese. Fried war wahrscheinlich mit Alexander Fried, Beamter, identisch. Der Vereinsvorsitzende Franz Nütten war, wie bereits erwähnt, Rechtsanwalt. Den Namen Lauterjung gab es in Aachen nur zweimal: Eduard, Holz- und Marmormaler oder Hugo, Kaufmann, beide wohnhaft Adalbertsteinweg 3. Lauterjung wird in den 20er-Jahren noch einige Male in Schachberichten erwähnt, aber nie wird sein Vorname genannt. Bei dem Herrn Holländer, der das Remis gegen Kostic schaffte, handelt es sich fast sicher um Benjamin Holländer, Gebrauchtmetallhändler und Urgroßvater von Anne Frank. Jedenfalls ist dieser als Mitglied des ASV in einer Mitgliederliste von 1905 aufgeführt.6 Auch Moritz Wallach, ein Tuchfabrikant, kann auf diesem Wege identifiziert werden.

Der 1. Weltkrieg bedeutete dann eine schlimme Zäsur für den Aachener Schachverein. Von den gerade aufgelisteten Mitgliedern begegnen uns nach dem Krieg nur noch zwei wieder: Lauterjung und Riese.

Anmerkungen

  1. Dr. Hans Scherer: Der Aachener Schachverein 1856. Ein Traditionsverein stellt sich vor. Vereinschronik zum 135-jährigen Jubiläum, Aachen 1991.
  2. Bezeichnend für die schwache Quellenlage ist, dass wir diese Information nicht den Vereinsunterlagen entnehmen, sondern den Einträgen im „Adreßbuch für Aachen und Umgebung“, Ausgaben von 1912 bzw. 1913.
  3. Der Chronist ist dankbar, denn zu seinem Leidwesen finden sich in der Zeit von 1868-1912 in der deutschen Schachpresse und der Aachener Lokalpresse brauchbare Informationen über den Verein lediglich in homöopathischen Dosen.
  4. Edo Historical Chess Ratings, www.edochess.ca, aufgesucht am 29.12.2020.
  5. Siehe dazu Wolfgang Angerstein: „Laska - ein strategisches Verstandesspiel“. In: Richard Forster, Stefan Hansen, Michael Negele: „Emanuel Lasker. Denker, Weltenbürger, Schachweltmeister“. Exzelsior Verlag, Berlin 2009.
  6. „Der Internationale Schachkongress des Barmer Schachvereins 1905“. Herausgegeben vom Barmer Schachverein, Barmen, 1906. S.513.